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How to: Nachtfahrten lieben lernen (und die Angst davor überwinden)

Nyctophobie. Dieses abgehoben klingende Wort bedeutet „Angst vor der Nacht“.

Ok, du hast also Angst im Dunkeln. Keine Sorge, es gibt keinen Grund sich dafür zu schämen oder idiotische Witze darüber zu machen, um von den Tatsachen abzulenken. Viele, vielleicht sogar die meisten Menschen fühlen sich in der Dunkelheit unwohl und es ist eigentlich sogar verständlich, warum das so ist. Immerhin ist einer unserer wichtigsten Sinne in der Nacht plötzlich kaum noch zu gebrauchen: Wir sehen einfach viel weniger von unserer Umgebung. Im Gegensatz zu Katzen und so gut wie fast jedem anderen Säugetier sind wir im Dunkeln ziemlich blind. Doch anders als die gemeine Hauskatze, können wir uns schicke, leistungsstarke Lampen an unsere Räder schrauben und siehe da, es werde Licht.

Man könnte also annehmen, dass die Dunkelheit für ein so fortschrittliches Lebewesen wie den radfahrenden Menschen ein eher triviales Phänomen darstellen sollte. Dies steht jedoch im Widerspruch zu meiner Erfahrung, nach der es viele Radfahrer*innen gibt, die dem Thema Nachtfahrten lieber aus dem Weg gehen. Es gibt ja schließlich noch Indoortraining und Zwift.

Für all jene, die diese Art der Hamsterradbetätigung zwar als durchaus lohnenswertes Trainingsmittel betrachten, die aber dennoch der Ansicht sind, dass dies alles im Grunde eher wenig mit dem Akt des Radfahrens an sich zu tun hat, und irgendwie auch furchtbar langweilig ist und man das schöne Nussbaumparkett unnötig mit einer Lache aus Schweiß ruiniert, weil man halt von dem Ventilator immer so schrecklich trockene Augen bekommt, hier nun eine kleine Anleitung mitsamt Argumenten, warum das nächtliche Radfahren eigentlich eine wunderbare Sache ist und wie man dahin kommt, diesen Umstand tatsächlich selbst zu entdecken.

Zunächst eine Feststellung: Wer lange Distanzen fahren möchte, vielleicht gar ein Non-Supported Rennen, wird trotz Training mit Zwift, Hotels und guter Planung nicht drum herum kommen, die ein oder andere Stunde im Dunkeln Rad zu fahren. Es ist wirklich schade mitzuerleben, wie unglaublich viel Ultrapotenzial da draußen verschwendet wird, weil das Thema Nachtfahrten wie eine Sache erscheint, die man entweder mag oder nicht.

Vermeintlich gibt es diejenigen, die davor Angst haben und die anderen, die furchtlos durch die Nacht jagen, ohne nur den Schimmer einer Ahnung davon, was überhaupt das Problem ist. Doch ganz so ist es nicht.

Niemand würde auf die Idee kommen, einen Sieg bei der Tour de France vollkommen ohne Training anzustreben. Aber, dass so etwas wie Furchtlosigkeit ebenfalls das Ergebnis von Gewöhnung, also nichts anderem als Training sein könnte, scheint sich noch nicht so weit herumgesprochen zu haben.

Angst zu haben disqualifiziert niemanden, ganz im Gegenteil, ist es Teil des Prozesses und vollkommen normal.

Ich liebe es, nachts Rad zu fahren. Genaugenommen ist es für mich sogar oft der beste Zeitpunkt, um lange Touren zu beginnen. Hin und wieder habe ich jedoch Angst. Und vor noch nicht allzu langer Zeit stand mir selbst bei dem Gedanken an eine Solo Nachtfahrt der kalte Schweiß auf der Stirn, während ich mir schlimmstmögliche Szenarien vorstellte. Die im weiteren Text beschriebene Herangehensweise ist somit kein theoretisches, fein säuberlich in Häppchen serviertes Produkt meiner Phantasie, sondern der Weg, den ich gegangen bin, um meine Angst vor Nachtfahrten in den Griff zu bekommen. Fein säuberlich rekapituliert, analysiert und in Häppchen serviert.


Was wäre also, wenn du deine Unsicherheit verlieren könntest? Was, wenn sich deine Angst vor nächtlichem Radfahren in Zukunft nicht nur verringert, sondern du plötzlich gar Spaß daran hättest, du zu einem echten Nachtschwärmer werden würdest, der sich nach der Ruhe, den leeren Straßen, den wunderschönen Mondnächten und dem Gefühl sehnt, das du spürst, wenn dich nichts mehr davon abhält jederzeit und überall ungehemmt in die Pedale zu treten?

Du könntest herausfinden, das echte Dunkelheit faktisch sehr selten ist und dass das, was hinter einem Busch am Rand der Straße hockt, mit ziemlicher Sicherheit kein perverser Serienmörder ist, sondern lediglich eine Bisamratte, die froh ist, dass du kein perverser Serienmörder mit einem SUV bist, der sie einfach platt fährt.

Also, wie fangen wir an? Gemach. Wir wollen deine negativen Annahmen mit positiven Erfahrungen ersetzen, sodass du keine Gründe mehr hast, dein Leben auf dem Indoortrainer zu verschwenden. Dafür brauchen wir etwas Zeit, denn niemand hat etwas davon, eine 200km Runde in der tiefsten Winterdunkelheit zu starten, um dann resigniert und mit vor Angst vollgepupster Bibshort zum Leben als Hamster auf der Rolle zurückzukehren. Dafür müssen wir uns als erstes den irrationalen Ängsten zuwenden, die dich davon abhalten, der Bisamratte und dir die Nacht eures Lebens zu gönnen.


Irrationale Ängste

Wovor genau fürchtest du dich? Vor wilden Tieren? (In Europa bis auf wenige Ausnahmen ausgestorben und/oder harmlos, daher sollten diese Tiere wohl eher Angst vor dir haben)

Serien Mördern? (Also Netflixabo, schon klar)

Fantastische Kreaturen? (Muss ich dazu noch was sagen)

Alien Attacke/Entführung? (Wohl auch eher was für Netflix oder die nächste Gamescom)

So lächerlich diese Ängste erscheinen mögen, sie treiben ein Prinzip sehr gut auf die Spitze:

Die meisten unserer Ängste sind irrationaler Natur.

Jeder von uns kennt sie, auch wenn es offensichtlich in vielen Fällen (hoffentlich) nicht derartig absurde Ängste sind.

Versuche es mal aus einer anderen Perspektive zu betrachten, nicht aus der Ängstlichen, sondern eher so, wie ein Statistik - Nerd an all das herangehen würde. Du hast vielleicht eine unbestimmte Angst davor, zu später Stunde einem dir nicht wohl gesinnten Individuum zu begegnen. Aber Nachts sind viel weniger Menschen unterwegs! Betrachte das mal als Chance, nicht als Gefahr: Weniger Menschen bedeutet, potenziell weniger böse Menschen. (Einfach ausgedrückt, schließlich geht’s hier ums Prinzip und nicht um den nächsten Literaturnobelpreis)

Nun könnte man einwenden, dass es ja, wie so oft im Leben, nicht um die Quantität, sondern um die Qualität der Menschen geht, denen man nachts um 3 auf einer einsamen Landstraße begegnet. Jemand, der zu einer so unmenschlichen Zeit an einem solchen Ort anzutreffen ist, kann einfach nichts gutes im Schilde führen und ist wahrscheinlich ein zweiter Ted Bundy. Aber stell dir mal für einen Moment vor, du wärst da draußen.

Du bist also auch dort. Bist du ein zweiter Ted Bundy, der nichts gutes im Schilde führt?

Ich habe auf einsamen Landstraßen noch nie einen zweiten Ted Bundy getroffen, weder nachts noch tagsüber.

Es gibt noch einen Faktor, den wir nicht unberücksichtigt lassen wollen: Du bewegst dich. Hoffentlich mit rekordverdächtiger Geschwindigkeit, sodass allein aufgrund dieser Tatsache das Risiko, Opfer eines Psychopathen zu werden, recht gering ist, weil du kürzer an einem Ort verweilst. Außerdem sind Psychopathen gut in Mathe und können sich ausrechnen, dass die statistische Wahrscheinlichkeit, ein potenzielles Opfer auf einer verlassenen Landstraße um 3 Uhr nachts anzutreffen, enttäuschend gering ist. Die meisten Verbrechen werden tagsüber verübt und die Psychopathen, über die du dir mehr Gedanken machen solltest, sitzen erstaunlich oft in den Chefetagen dieser Welt oder in anderen angesehen Berufen. Doch genug über Psychopathen, lass uns lieber endlich anfangen.


Schritt eins

Beginne dein Training etwas später als gewöhnlich. Versuche, so zu kalkulieren, dass du das letzte Drittel deiner Runde im Dunkeln fährst. Es ist leichter im Hellen loszufahren und wir wollen ja nicht, dass du dich vor lauter Angst gleich wieder auf dein Leben als Hamster zurück besinnst. Außerdem ist es durch das graduelle dunkler werden leichter, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, als wenn man Knall auf Fall gleich mit dem Schwersten beginnt. Zudem sollte der körpereigene Chemiebaukasten nicht unterschätzt werden: Wenn du schon eine Weile auf dem Rad sitzt, ist es allein aufgrund des bereits ausgeschütteten Hormon - und Neurotransmittercocktails viel schwieriger, überhaupt noch Angst zu spüren. Happy Hour sozusagen.

Bevor du eifrig an die Routenplanung gehst, hier noch ein paar kurze Hinweise

Tipp 1

Wähle einen Abend mit Vollmond und klarem Himmel. Es hat mich stets selbst überrascht, wie hell es nachts sein kann, wenn diese beiden Voraussetzungen erfüllt sind. In einer Nacht dachte ich sogar, hinter mir führe dir ganze Zeit ein Auto, bis ich begriff, dass es bloß das Licht des Mondes war.

Tipp 2

Im Sommer ist die Zahl der Stunden ohne Sonnenlicht deutlich geringer, als im Winter, in der eine Nacht gut und gerne 10-16 h Dunkelheit bedeutet. Ich weiß, dass man seinen Trainingsplan nicht immer danach ausrichten kann und je nachdem wo du lebst, variiert dies auch stark. Trotz allem solltest du die unterschiedlichen Voraussetzungen kennen und dich darauf einstellen.

Tipp 3

Strecken, die durch den Wald oder durch Täler führen, lassen die Umgebung deutlich dunkler erscheinen. Selbst im Sommer kann der Sonnenuntergang in alpiner Umgebung früher stattfinden und auch nachts ist dort potenziell weniger Himmel sichtbar. Es sei denn du bist ganz oben auf dem Gipfel. Doch dieser Zustand dürfte leider prozentual den geringsten Anteil deiner Nachtfahrten ausmachen.


Am geeignetsten ist eine Strecke, die du gut kennst. Das, was die Ursache für viele angsterfüllte Gedanken ist, nämlich das Unbekannte, solltest du dir für spätere Ausflüge aufheben. Die Sorge dich eventuell zu verfahren, kannst du also getrost als Ausrede vergessen. Beginne in urbanen, selbst nachts noch helleren Gegenden und weite deine Trainingsrunden dann langsam in immer weniger beleuchtete Gebiete aus. So bleibt alles planbar, abschätzbar und daher zwar ein wenig langweilig, aber da Langeweile das Gegenteil von Angst ist, ist das ausnahmsweise mal etwas Gutes. Bevor dir jedoch allzu langweilig wird, kannst du übergehen zu


Schritt 2

Plane deine erste längere Nachtfahrt mit Gesellschaft.

Ja, richtig, du sollst, obwohl du nun schon so abenteuerlustig bist, deine erste komplette Nachtfahrt nicht alleine durchführen.

Schließlich geht es im Grunde darum, positive Erfahrungen zu machen, um die negativen Annahmen und Ängste, die ursprünglich mit Nachtfahrten verbunden waren, durch die erfreuliche Realität auszutauschen. Es geht im Prinzip um Wiederholung, je häufiger und angenehmer die Erfahrungen, desto weniger irrationale Ängste werden übrig bleiben.

Du wirst dir selbst beweisen, dass Radfahren nach Sonnenuntergang etwas Großartiges ist und zwar nicht, indem du dir das einredest, sondern indem du es direkt und spürbar erfährst. Irgendwann wir dein Gehirn diese Handlung dann in die Kategorie „sicher“ verschieben.

Dieser Prozess ist wissenschaftlich genaustens untersucht und wird unter anderem in der Verhaltenstherapie angewendet, beschreibt aber im Wesentlichen vor allem einen Super Skill unseres Gehirns: Neuroplastizität. Also die Superkraft durch bloße Wiederholung (und einige andere Tricks, doch dazu irgendwann mal mehr) bis ins hohe Alter alles zu lernen. Wie zum Beispiel, das Nachtfahrten nichts sind, wovor man Angst haben muss. Aber bevor wir nun der Gefahr erliegen, in nerdige Bereiche der Neurobiologie abzuschweifen, gehen wir lieber über zu


Schritt 3

Plane deine Nachtfahrt gut im Voraus. Ich weiß, das klingt so selbstverständlich, dass es schon lächerlich wirkt, diesen Punkt überhaupt zu erwähnen, aber es ist der Aspekt, an dem ich immer noch am häufigsten scheitere. Der Teufel steckt nun mal im Detail.

Stress vor der Fahrt zu reduzieren ist der sicherste Weg, Stress während der Fahrt zu reduzieren.

Du willst schließlich nicht 5 Min vor Start feststellen, dass deine Bidons noch den superduper Elektrolytdrink von der letzten Runde enthalten. Oder, dass deine Powerbank bei 5% Ladung ist. Oder, dass deine Kette eigentlich schon bei der letzten Fahrt ziemlich trocken war.

Oder oder oder. Ich neige immer noch dazu, solche Kleinigkeiten zu unterschätzen und ertappe mich oft selbst bei dem Gedanken, „das mache ich später“. Doch später bedeutet eigentlich meistens - zu spät. Zu den wichtigsten Vorbereitungen gehört neben der Beschaffung von genügend Snacks natürlich auch die richtige Playlist, was uns direkt überleitet zu


Schritt 4

Musik ist eines der mächtigsten Mittel gegen Angst. Also schenke der Erstellung deiner Playlist die Aufmerksamkeit, die sie verdient, denn Musik kann ein essentieller Aspekt zur Verbesserung deiner Erfahrung mit Nachtfahrten sein. Wenn du generell nicht gern mit Musik Rad fährst, überspringe diesen Punkt einfach. Wenn du jedoch ähnlich tickst wie ich, dann wird Musik das Element sein, das Nachtfahrten zu deiner neuen Lieblingsbeschäftigung werden lässt.

Alles was du tun musst, ist auf deine Bedürfnisse zu achten und deinen persönlichen Vorlieben freien Lauf zu lassen.

Die nächtliche Straße kann zu deinem eigenen, privaten Berghain werden oder auch zur Mailänder Scala, ganz wie du es gern hättest.

Erwarte nicht, dass ein Song jedes Mal funktioniert: In manchen Nächten brauche ich harten Minimal Techno, in anderen wiederum fühle ich mich damit äußerst unwohl und höre lieber trashigen 90's Pop oder Lady Gaga, um in die Gänge zu kommen. Es liegt ganz an dir, selbst herauszufinden, was wann wie am besten funktioniert. Bei einigen meiner Freunde funktionieren zum Beispiel Hörbücher besser als Musik, wohingegen ich damit während des Radfahrens nicht viel anfangen kann. Trotzdem kann es hilfreich sein, sich von anderen Hörgewohnheiten inspirieren zu lassen.

Aber ist es nicht gefährlich auf der Straße beim Radfahren Musik zu hören?


Schritt 5 - Potentielle Gefahren eliminieren (Booh!)

Nun da wir bereits über irrationale Befürchtungen gesprochen haben, können wir uns den echten Gefahren zuwenden. (Ich wollte dich nicht gleich zu Beginn abschrecken)

Nachts Rad zu fahren kann gefährlich sein, wenn du:


  • ohne ausreichende Beleuchtung losfährst

  • ohne reflektierende Elemente an Rad und Kleidung unterwegs bist

  • offroad in populationsschwachen Gegenden unterwegs bist, ohne dass jemand darüber Bescheid weiß

  • du losfährst, ohne jemanden wissen zu lassen, was du vorhast

  • weiterzufahren, obwohl du müde bist

  • du keinen Helm trägst

Gut, natürlich solltest du immer einen Helm tragen, denn abgesehen davon, dass es total bescheuert aussieht, auf einem Rennrad keinen Helm zu tragen, kann dieser dein wunderschönes Gehirn vor ernsthaften Schäden im Falle eines Sturzes bewahren.

Im Falle eines solchen, möglichen Sturzes ist es auch ratsam, wenn jemand weiß, wo du dich aufhältst. Es muss nicht immer das Worst - Case - Szenario sein, bei dem du auf einem einsamen Guanako - Pfad irgendwo in den peruanischen Anden einige Meter in die Tiefe gestürzt bist und nun bewusstlos mit gebrochenem Bein auf einem kleinen Felsplateau liegst, dass demnächst nachgeben wird, um dich endgültig in die Tiefe zu reißen. Es könnte auch einfach sein, dass du ein mechanisches Problem an deinem Rad hast, das du nicht selbst beheben kannst, oder du Durchfall bekommst oder du dir beim Absteigen deinen Knöchel verstauchst oder du nicht genug zu essen mitgenommen hast und alle Tankstellen geschlossen sind...Die Liste ist endlos und man kann sich selbst als kreativer Geist manchmal nicht ausmalen, aus welchen Gründen Touren schon abgebrochen werden mussten.

In jedem Fall ist es besser, wenn jemand weiß, dass du unterwegs bist, im Idealfall sogar wohin du fährst und wann du ungefähr zurück sein willst.

Das klingt nun alles plötzlich so gefährlich?

Nun, ich bin überzeugt davon, dass Nachtfahrten zum Sichersten gehören, was man auf einem Fahrrad anstellen kann, wenn man sich an ein paar einfache Regeln hält.

Warum?

Zum einen ist die Verkehrslage nicht mit dem tagsüber herrschenden Irrsinn zu vergleichen. Es gibt viel weniger gestresste, genervte Pendler, die nach einem langen Tag im Büro nur noch so schnell wie möglich nach Hause wollen und im schlimmsten Fall eine gehörige Portion Frustration mitbringen. Es gab Nächte, da wurde ich innerhalb von 4 Stunden von genau einem Fahrzeug überholt. Sogar mit dem vorgeschriebenen Mindestabstand. Kaum zu glauben, ich weiß. Aber tatsächlich erlebe ich die meisten abendlichen Verkehrsteilnehmer umsichtiger und entspannter und ich fühle mich deutlich seltener als tagsüber genötigt, auszuweichen, um zu überleben. Das sind jedoch bloß meine subjektiven Erfahrungen - im Zweifel lohnt es sich, es selbst auszuprobieren.

Jedoch bitte nur unter Berücksichtigung der wichtigsten Regel überhaupt:

Erstrahle wie ein verdammtes Sonnensystem.

Sei nicht schüchtern mit der Beleuchtung an deinem Rad. Erst, wenn du so aussiehst, wie der Coca Cola Truck zur Weihnachtszeit, ist es grade gut genug. Nimm nie nur ein Front - und Rücklicht mit, je mehr desto besser. Es ist kaum zu glauben, wie schnell man Lichter verliert. Generell neigen Dinge dazu, kaputt zu gehen, wenn man sie am dringendsten benötigt. Sorge dafür, dass du genug Ladekapazität am Rad hast. Ob Dynamo, Powerbank, Batterien, egal. Plane immer ein, dass du vielleicht nicht deine Bestzeit auf der geplanten Strecke fahren wirst, selbst wenn du dich fühlst wie Egan Bernal.

Du hast kein Teamfahrzeug an deiner Seite, also sei dein eigener Materialwagen.

Man kann an vielem sparen, wenn es ums Radfahren geht. Doch spare bitte nie an dem, was dich selbst und den Weg für dich erhellt; es wird im Zweifel dein Leben schützen. Darüber hinaus ist es nie verkehrt, selbst zu strahlen wie ein Diamant in der Auslage von Tiffany, denn sollte es einmal zum Äußersten kommen und deine Lichter versagen komplett, dann hast du durch reflektierendes Material immer noch ein Backup, um zumindest von anderen Verkehrsteilnehmer gesehen zu werden.


Schlafentzug im Langstreckenbereich ist ein sensibles Thema. Hier sei an dieser Stelle nur so viel gesagt: Fahr nicht müde los, ruh dich aus, bevor du eine längere Fahrt beginnst. Müdigkeit kann dein subjektives Sicherheitsempfinden unabhängig von real herrschenden Umständen steigern oder ins Gegenteil umschlagen, bis hin zur Panik. Es ist schon schwer genug, den Punkt bei sich selbst zu bestimmen, wann die Dynamik in welche Richtung schwingt, daher rate ich hiermit ausdrücklich davon ab, mit Schlafentzug oder Schlafmangel während der ersten Nachtfahrten zu experimentieren.

Dies ist das grundlegende Sicherheitsgerüst, alles andere ist dir überlassen. Ich persönlich halte es beispielsweise für vertretbar, beim Radfahren Musik zu hören, wenn es die Verkehrslage erlaubt. Wenn du dabei auch noch laut mitsingst, schreckst du eventuell sogar noch das ein oder andere Wildschwein davon ab, dich über den Haufen zu rennen.

Nun, nach all diesen Schritten ist es soweit. Ganz ohne es zu bemerken, bist du langsam deine Angst vor Nachtfahrten losgeworden. Dir steht nichts mehr im Weg, weder die Dunkelheit, noch irrationale Ängste, noch schlechte Vorbereitung, denn deine Powerbanks sind voll, deine Playlist würde jeden DJ als Dilettanten entlarven und dein Beleuchtungssystem ist bereit, die Nacht zum Tag zu machen. Oder?


Noch nicht ganz.

Ich möchte an dieser Stelle noch einige Aspekte ansprechen, um anderen Frauen Mut zu machen.

(Die Herren sind ebenfalls herzlich eingeladen weiterzulesen)

Ich selbst hatte furchtbare Angst davor, nachts alleine mit dem Rad unterwegs zu sein. Das ging so weit, dass ich mich allein aus diesem Grund in meinem ersten Ultradistanzrennen nicht für die Solo Kategorie entschied. Der Gedanke, ganz auf mich gestellt in einem fremden Land durch die Dunkelheit fahren zu müssen, gar sogar draußen zu schlafen, löste bei mir Panik aus. Dann kam der Zeitpunkt, als ich mit der Situation konfrontiert wurde, dass die Teilnahme meines Teampartners in Frage stand. Ich stand vor der Entscheidung, entweder an meiner Angst zu arbeiten oder aber im Zweifel meinen Traum begraben zu müssen. Mir wurde bewusst, dass ich ein Problem hatte. Selbst mit Partner hätte ich immer befürchten müssen, dass irgendetwas schief geht und ich im Zweifel alleine weiterfahren müsste. In einem solchen Fall aufgrund von Furcht ein Rennen aufgeben zu müssen, erschien mir zu bitter. So entschied ich, etwas gegen diese offensichtliche Schwachstelle zu unternehmen und ich tat es, wie bereits beschrieben. Nach einiger Zeit beschloss ich sogar, in der Solo Kategorie zu fahren, denn ich stellte fest, dass es nichts mehr gab, was mich davon abhielt. Während ich mich meinen Ängsten stellte, wurde mir klar, dass sie zum einen Teil aus dem Unbekannten resultierten und zum anderen aus der Gesellschaft und den Bildern die wir ständig reproduzieren.


Das Klischee von der Frau, die nachts an einem einsamen Ort überfallen wird, ist so allgegenwärtig in unserem Alltag, sei es in Form von Romanen, Filmen, Musik, Kunst, Werbung, dass es vollkommen normal und richtig erscheint, als Frau Angst in der Dunkelheit zu haben.

Und selbst durch regelmäßiges „Desensibilitätstraining“, also häufige Nachtfahrten, sind diese seit der Kindheit eingetrichterten Urängste nicht komplett auflösbar.

An der Reaktion anderer sehe ich oft, dass es alles andere als selbstverständlich ist, zu wagen, keine Angst zu haben oder eher, sich nicht von all dem beeindrucken zu lassen, was passieren könnte. Egal, wie oft ich nachts fahre, es gibt immer wieder auch Momente, in denen mich das Grausen packt. In denen diese durch viele Jahre tief eingeschürften Ängste plötzlich wieder meinen Pulsschlag beherrschen.

Der Auslöser kann etwas so unscheinbares wie ein Auto sein, dass ein klein wenig zu langsam an mir vorbeifährt. Mitten in der Nacht, in einem kleinen Ort in Österreich, irgendwo zwischen Wien und der Großglockner Hochalpenstraße. Immer wieder scheint das selbe Auto meinen Weg zu kreuzen, ich bemerke, wie der Fahrer in Straßen einbiegt, um dann, wenige Momente später, wieder aufzutauchen. Als würde der Fahrer etwas suchen. Oder mir folgen?

Es ist die erste Nacht des Three Peaks Bike Race 2020, ich bin bereits seit vielen Stunden unterwegs und die Nervosität vom Start ist noch nicht ganz verflogen. Ich spüre die Angst in mir hochsteigen, all die Geschichten, die mir erzählt wurden, die Nachrichten, die Bilder von vermissten Frauen auf Postern an Ampeln und Laternenpfählen erscheinen vor meinem inneren Auge und ich schalte in den Fluchtmodus. Biege in einen Weg ein, abseits der Hauptstraße, eine ruhige Umgebung mit hübschen, kleinen Einfamilienhäusern. Vielleicht würde mich hier jemand schreien hören, vielleicht könnte ich mich noch schnell in den Garten eines der Häuser flüchten, an die großen Balkontüren aus Glas schlagen. Filmplots spulen sich in meinem auf Survival-Mode gestellten Hirn ab, jeder beknackte Thriller, jede Warnung meiner Oma schreien sich gegenseitig Tipps zu, während ich versuche, so schnell wie möglich unsichtbar zu werden. In einer Biegung, vom Licht der Straßenlaternen unberührt, steht eine von Büschen umgebene Bank. Ich tue so, als bräuchte ich dringend eine Pause, obwohl niemand da ist, dem ich das vorspielen müsste.

Ich lausche: Stille.

Hastig schalte ich meine Lampen aus. Und höre den Motor eines sich nähernden Wagens. Mit zitternden Händen greife ich nach meinem Handy, wähle die Nummer von meinem besten Freund, der im Zweifel wissen soll, wo ich von der Bildfläche verschwand.

Vielleicht traut sich auch niemand an mich heran, wenn ich gerade telefoniere. Es klingelt. Scheinwerferlicht trifft auf die Bank, auf mich, das Auto hält an einem Haus, einige Meter entfernt.

Mein bester Freund sagt in meinem Ohr, „Hey was ist los? Alles ok bei dir?“

Ich flüstere vor Angst. „Ja. Nein. Da ist ein Auto, das mir folgt. Ich weiß nicht genau wo ich bin...Ich sitze hier auf einer Bank.“

Ein Mann steigt aus dem Auto, ich versuche mir das Kennzeichen zu merken, so viele Details wie möglich einzuprägen, doch ich sehe sein Gesicht nicht. Er hat etwas in der Hand, etwas längliches. Er scheint nicht in Eile zu sein, geht weiter auf das Haus zu, doch plötzlich bleibt er stehen. Mir stockt der Atem. Er hebt den Gegenstand und -

wirft ihn in den Briefkasten.

Mit einem langen Prusten atme ich aus, die Stimme meines inzwischen ziemlich beunruhigten Freundes im Ohr, dem ich nun, vor Erleichterung lachend, mitteile:

„Oh man, alles gut, es war bloß der Zeitungszusteller.“


Natürlich ist der ominöse Autofahrer ständig in Straßen eingebogen und langsamer gefahren. Jedoch nicht, weil er nach einem potentiellen Opfer Ausschau hielt, sondern weil er schlicht und ergreifend seinen Job machte. Wahrscheinlich wunderte er sich sogar etwas über die bunt gekleidete Radfahrerin, die mitten in der Nacht auf einer Bank in der Wohnsiedlung eines absurd winzigen Dörfchens rumsaß. Vielleicht hat er mich auch nicht einmal bemerkt. Fest steht, dass das einzig Gruselige an diesem Abend meine Phantasie gewesen war und all die Verhaltensweisen, die ich mir über die Jahre angeeignet hatte, um mich im Zweifel zu schützen.

Über die Gründe, warum nächtliches Radfahren für jemanden, egal welchen Geschlechts, mit ziemlicher Sicherheit ungefährlich ist, habe ich bereits geschrieben. Dass es als Frau manchmal schwerer sein kann, sich diesem Thema zu stellen, ist leider auch wahr. Davon abgesehen bekommt man seine Angst nicht in den Griff, wenn mögliche Gefahren einfach ignoriert werden, sondern indem man diese anerkennt und aus eigener Praxis begreift, dass selten etwas passiert, wovor es sich wirklich lohnt, Angst zu haben.


In diesem Sinne: Carpe noctem.


Oder um es mit Lady Gaga zu sagen:



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